Pinsel ohne Land 

Sie saßen zwischen Lavendelfeldern im schweren Licht des Tages. Ihre Augen sahen schon das Ende des Himmels voraus, doch ihre Gedanken galten den Vögeln über ihren Köpfen, die dort kreisten wie ein kleiner Fluch. Ein einzelnes Schaf, in Wolle versunken, döste im lilafarbenen Gras. Die Zukunft ist auch bei offenen Augen nicht immer zu sehen. So zählten sie die Wolken am Himmel, so tauschten sie Gesten gegen Melancholie. Vielleicht war Sonntag, vielleicht lagen auch mehrere Tage zwischen ihren Erinnerungen. Die Sonne färbte die Felder an den Rändern der Zeit. Hier zu sein ohne an Abschied zu denken, war wie unwiderruflich die Augen verschließen, war wie ein Verweilen vor der sicheren Tür. Sie glaubten noch immer an das tiefe Blau ihrer Worte, an die Stimme des Lichts in einer zerbrechlichen Zeit. Und auch ihre Wünsche ähnelten sehr der Stille dieses Moments. Vielleicht sind sie später zum Gegenstand eines Gemäldes geworden. Vielleicht schliefen sie schon, als ein Flugzeug diesen Moment markierte ohne weitere Nachricht.

Veröffentlicht in
Das Prosastück, 4. Ausgabe

Ortsblinder Gast


Am Morgen wachsen mir Zweige in den Blick. Ein grauer Schleier legt sich über die stählerne Kuppel des Bahnhofsgebäudes. Hinter den Scheiben gleitet ein Zug. Ich frage mich, ob ich über Nacht kleiner geworden bin, weil der Raum um mich größer ist und so viel Abstand zwischen mir und den Köpfen der anderen. Im Rücken: Frühstücksgeklapper. Das blicklose Lächeln eines Kindes. Maskierte Münder. Füße, dicht an dicht. 


Ich formuliere mein Dasein so, dass ich mich an den äußeren Rand des Raumes bewege. Von dort dehne ich meinen Blick. Ich mache heimlich Bilder im Kopf, um mich ein wenig festzuhalten an dieser Fremden neben mir, die wie ich Gast ist in einer anderen Stadt. 


Der Tag, er bricht sich an den Geräuschen der Straße, das Reiben der Räder über den Gleisen. Hiersein, Stück für Stück. 


Die Prager Straße, ein Experiment von Flächen. Plattenbauten, konstruiert aus Klötzen und Kästen, zwischen denen Menschen blitzen wie überschüssiges Licht. Ich bekomme Lust, die Kälte um mich herum zu duzen. Das Laub, das gefallene, Visionen eines Ichs. 


Oder: wie von unsichtbaren Fäden aufgehoben zu werden, von einem Punkt zum anderen getragen wie auf einem Schachbrett ohne Material. Hingegen vollzieht sich mein Weg durch die Stadt im Takt eines stummen Monologs.


(…) 


Veröffentlicht in „Risse und Welt“ (Anthologie), Axel-Dielmann-Verlag 2023 

© 2024 Nicola Quaß

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